Geschichte des Stiftes
(c) Dr. Erwin Isenberg, März 2001-03
Während im Mittelalter klösterliche Kontemplation das Leben der Prämonstratenserinnen in Keppel bestimmte, wurden im Zuge der Reformation die nunmehr "freiweltlichen" Stiftsfräulein zur Ableistung ihrer Präbende in die Pflicht genommen, "junge frawen und schullmägdelein" zu unterrichten. Einem alten Lehrplan zufolge sollten sie ihnen "neben lesen schreiben und rechnen auch spinnen, nähen, sticken und wirken" beibringen, des weiteren "distilliren und waßer brennen, kochen zu disch, im hause, stuben und kammern uffzuraumen und sauber zu halten, damit sie hernach deste eher und beßer zu gutten heyrathen kommen, sich mit got und ehren ernehren".
Es war keine höhere Schule im späteren Sinne, aber eine Schule für höhere Töchter allemal, ein "Collegium virginum nobilium", das über die Grenzen Nassaus hinaus einen guten Ruf hatte. Es waren in erster Linie Adelige, aber auch betuchte Bürger, Angehörige der gebildeten Stände und der Administration, die ihre Kinder nach Keppel in die Kost und Lehre schickten, mitunter in mehrfacher Generationenfolge von Töchtern, Enkelinnen oder Nichten. Als Vorbereitung auf einen künftigen Ehestand war nicht nur die Vermittlung häuslicher Fertigkeiten vorgesehen, sollten die Jungfern doch ebenso im Lesen, Schreiben und Rechnen unterwiesen werden. Im Zeitalter der Reformation begann sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass religiöse Mündigkeit nur durch die Beherrschung der elementaren Kulturtechniken zu erreichen war. Solcherart gebildeten Menschen konnte auch in profanen Dingen so leicht kein X mehr für ein U vorgemacht werden. Bemerkenswert ist sicherlich, dass man seinerzeit gar Frauen die Chance zur Mündigkeit zubilligte. Keppel also ein Ort früher Frauenbildung.
Eine in der "Bibliotheque Royale de Belgique" in Brüssel unter dem archivalischen Titel "Chronick des Stiffts Keppeln im Fürstenthum Nassau-Siegen" verwahrte Handschrift, 1720-25 von Philipp Ludolf Wilhelm von der Hees verfasst, weist neben zahlreichen Urkundenabschriften und zeitgenössischen Kommentaren auch die Zusammenstellung einer Schülerinnenmatrikel auf. Der Chronist bezieht sich auf Rechnungsbelege, die er seinerzeit noch im Stiftsarchiv vorgefunden hatte. In der Auflistung, die überschrieben ist: "in der Kost und Lehre zu Keppel, die sub Rubrica Inahmb gelt von jungen Mädergen und Junffern, so bey uns in die Schule gehen in dem Closter, und Stiftsrechnungen biß 1626 eingeführt und vermeldt werden", sind insgesamt über 300 Schülerinnen aufgeführt. Kurioserweise hat man gelegentlich auch das eine oder andere "Söhngen" in die Töchterschule gegeben. Nicht immer sind die überlieferten Jahreszahlen gleichzusetzen mit dem Eintrittsjahr der Zöglinge. Buchhalterisch wurde in erster Linie der Eingang des Kostgeldes datiert, was gelegentlich auch erst nach Beendigung des Aufenthalts quittiert werden konnte. Nach einer "Ordenung zu Keppell" aus dem Jahre 1547 war die Höhe des Kostgeldes festgelegt worden. Nach § 6 heißt es dort: "für ein jedes kindt, das in das Closter zu lernen angenommen wirt, sollen die Eltern oder ire freundschafft jerlich zwölff gulden räder Müntze dem Closter erlegen". Das Eintrittsalter der Schülerinnen war recht unterschiedlich. Bei einigen rechnen sich nur zarte fünf Jahre zusammen, andere müssen schon an die dreißig Jahre alt gewesen sein. Auch die Aufenthaltsdauer war offensichtlich nicht einheitlich festgelegt. Während einige manchmal nur gerade ein Jahr blieben, in der Regel aber doch drei bis sechs Jahre, weilte beispielsweise eine Christine von Diez von 1581 bis 1596 in Keppel. Für die 15 Jahre, die sie hinter Stiftsmauern verbrachte, wurden 100 Gulden abgerechnet. Es ist zu vermuten, dass sie die lange Zeit wohl weniger der Schule wegen als zum Zwecke zurückgezogener Verwahrung verbrachte, war sie doch die uneheliche Tochter der Anna von Sachsen, der zweiten Gemahlin des Prinzen Wilhelm von Oranien, als deren sechstes Kind sie geboren wurde. Der Kindesvater der "Illegitima" war ein Advokat mit Namen Jan Rubens, zugleich Vater des in Siegen geborenen und später allseits berühmten Malers Peter Paul Rubens.
Der Graf von Nassau-Dillenburg war Schirmherr des Stifts. Unter Wilhelm I., der auch der Reiche genannt wurde, war das Kloster Keppel evangelisch geworden. 1536 hatte er den Magister Erasmus Sarcerius auf Empfehlung Melanchthons und Bugenhagens aus dem evangelischen Sachsen in sein Land geholt und ihn zum Leiter des nassauischen Schulwesens berufen. 1538 war Sarcerius in Keppel und reformierte dort. Im Entwurf der bereits zitierten Klosterordnung von 1547, den Graf Wilhelm der Reiche bereits am 20. Juli 1543 in vielen Abschriften an Angehörige des Adels mit dem Ersuchen geschickt hatte: "Ir wollet dieselbe übersehen, und uns eur Gemüt daruf zu erkennen geben", spricht von solcher Kinderunterweisung bereits als von etwas Selbstverständlichem. In Artikel 3 dieser Ordnung behält sich der Landesherr die Zulassung der aufzunehmenden Kinder selbst vor: "Es soll niemand in das Closter angenommen werden, ohne unser fürwissen, auch diejenigen nit, so allein ein zeitlang lernens und underweisen halber angenommen werden".
Wenige Jahre später wurde in dem altehrwürdigen Klostergemäuer eine Schule eingerichtet, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts regen Zuspruch erhielt. Sie florierte fast 80 Jahre. Die Liste der Schülerinnen eröffnet "das Fräuln Elisabeth grävin zu Nassov unseres gn. Herrn [Wilhelm I.] dochter" daselbst. Sie ist für das Jahr 1549 notiert. Als sie eintrat, war sie sechs Jahre alt. Wahrscheinlich ist sie danach sechs Jahre in Keppel in die "Kost und Lehre" gegangen.
Später folgten weitere nassauische Edelfräulein, so Johannette und Magdalene, die für das Jahr 1606 als Stiftschülerinnen verzeichnet sind. Es sind Enkelinnen von Wilhelm dem Reichen, in Sonderheit Töchter seines zweitältesten Sohnes Johann (VI.), nachmals als Johann der Ältere bezeichnet, der in dritter Ehe mit der Gräfin Johannette von Sayn-Wittgenstein (*1561) verheiratet war. Mit Johannette (*1593) und Magdalene (*1595) waren deren Nichten Maria Juliane (*1592) und Luise (*1593) fast gleichaltrig. Diese waren Kinder ihres Halbbruders Georg Graf von Nassau-Dillenburg (*1562). Sie waren bereits um 1600, also schon vor ihren Tanten in Keppel. Maria Juliane heiratete 1608 Georg V., Graf von Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Luise verstarb bereits 1614.
Aber auch für den benachbarten Hochadel war Keppel eine erste Adresse. Schon auf Grund der allgemeinen Versippung erweiterte sich der Kreis allein durch verwandtschaftliche Empfehlung. So vertrauten außer den Nassauern selbst auch die Grafen von Wittgenstein, von Sayn, von Solms, von Waldeck, von Isenburg und von Wied ihre Kinder der Erziehungseinrichtung in Keppel an. Gleichwohl pflegte das Stift nicht nur hochadlige Exklusivität, vielmehr wurde die Schule in überwiegender Zahl von Kindern des heimischen und außernassauischen Landadels besucht. Selbst die Bürgerlichen, Advokaten, Schultheißen, Professoren, Apotheker, ließen ihre Töchter, wenn sie es ihnen wert waren und sie das Lehr- und Kostgeld bezahlen konnten, in Keppel etwas lernen.
Die ersten Jahre des Dreißigjährigen Krieges konnten zunächst den Bestand der Schule in Keppel nicht gefährden. Noch 1620 traten die Gräfinnen Walper Madelene und Johannetta von Wied zu Diedorff mit ihrer Magd ins Stift ein. Auch als man 1622 vor durchziehendem Kriegsvolk in Siegen Zuflucht nehmen musste, waren immerhin noch 7 "Schulmädchen" in Keppel versammelt. Aber bald verringerte sich unter dem Eindruck der nahenden Kriegsbedrohung ihre Zahl: 1624 waren es nur noch drei. Nach der Ausweisung der reformierten Stiftsfräulein durch den zum katholischen Glauben konvertierten Johann den Jüngeren, Graf von Nassau-Siegen, der statt ihrer Jesuiten ins Stift einwies, hörte man von der Schule nichts mehr. Auch nach der 1648 im Westfälischen Friedenschluss vereinbarten Restitution, wonach die Religionsverhältnisse wie im sog. Normaljahr 1624 wiederherzustellen waren, gelang es nicht, die einst so bedeutungsvolle Stiftsschule wiederzubeleben. Wohl wurde in der Zeit von 1650 bis 1662 bei den Stiftsrechnungen auf der Einnahmenseite nach dem alten Schema wieder die Rubrik "von den Schuljungfern" aufgeführt, ohne tatsächlich jedoch irgendwelche unterrichtliche Aktivitäten erkennen zu geben.
Merkwürdigerweise belegen Rechnungen vom Leyendecker, Zimmermann und Schreiner aus dem Jahre 1716/17 Bau- oder Reparaturkosten an einem "Schulhaus" in Keppel. Eine Gesamtrechnung von fast 900 Gulden lässt nicht unbedingt auf eine geringfügige Maßnahme schließen. Was es mit dem Schulhaus oder der Schulstube zu dieser Zeit auf sich hatte, ist nicht bekannt. Im 18. Jahrhundert hatte es in Keppel nachweislich keinen Schulunterricht gegeben. Vielleicht waren die so benannten Räumlichkeiten - wo auch immer sie gewesen sein mögen - mittlerweile schon anderweitig genutzt, aber in ihrer ehemaligen Bezeichnung noch in Erinnerung geblieben.
Erst im 19. Jahrhundert besann man sich wieder der einstigen ideellen Zweckbestimmung Keppels, indem die Preußische Regierung 1871 erneut eine "Höhere Töchterschule" in den historischen Stiftsgemäuern etablierte. Mit dieser Einrichtung steht das heutige Gymnasium Stift Keppel in einer nunmehr 130-jährigen Tradition.