Geschichte des Stiftes
(c) Dr. Erwin Isenberg, März 2001-03
Die Farben Schwarz-Weiss-Rot: Stift Keppel im 1.Weltkrieg
In Stift Keppel - wie ueberall im Lande - nahmen nach der Jahrhundertwende 1899/1900 uebersteigerter Patriotismus und Kriegsbegeisterung immer mehr zu. Die Keppelsche Schule war ganz ein Kind ihrer Zeit (1). Grosse Euphorie erweckte in Keppel kurz vor 1914 der uebungsflug eines Zeppelins. Der Pilot, Bruder einer Schuelerin, machte Luftaufnahmen vom Stift! Wie war man da begeistert von der ueberlegenheit deutscher Technik! Ein Krieg konnte nur siegreich fuer Deutschland ausgehen und wuerde sehr bald beendet sein.
Das bedeutete allerdings nicht, dass im Stift bei Kriegsausbruch eine auslaenderfeindliche Stimmung geherrscht haette. Eine junge Franzoesin und eine Englaenderin, die zur Unterstuetzung des Fremdsprachenunterrichts im Stift weilten und sich dort sehr wohl fuehlten, weigerten sich, die neue Situation ernst zu nehmen und wollten eigentlich gar nicht abreisen: Sie meinten, sie kaemen ja in einigen Wochen wieder - und deponierten ihre Sachen auf Keppels Dachboden. (Ob diese sich noch heute dort befinden, in abgelegenen Kammern?)
Die voelkisch-nationale Vergangenheit, die Klassik von Weimar und grosse Hohenzollernverehrung praegten die Unterrichtsinhalte, die in den Keppeler Jahresberichten(2) dokumentiert sind; fuer das Fach Deutsch also das klassische Bildungsbuergertum: "Nibelungenlied", "Parzival", Walther v.d.Vogelweide und immer wieder Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Hoelderlin, - auch Uhland, Raabe und Keller. Interessant ist, wie die politische Stimmung der Zeit zunehmend Eingang in die Themen der Reifepruefungsaufsaetze fand: Im Jahre 1911/12 wurde ein Thema zu Eichendorffs "Taugenichts"(3) als Werk der Romantik gestellt. 1913/14 aber lautete das Thema: "In welcher Weise ist durch unsere Klassiker das deutsche Nationalgefuehl gestaerkt worden?"(4) - und 1914/15: "Aber der Krieg laesst die Kraft erscheinen. Alles erhebt er zum Allgemeinen." (5)
"Das war ein Leben und eine Begeisterung!" (6) So charakterisierte eine ehemalige Internatsschuelerin die ueberschwaengliche Begeisterung der ersten Kriegsmonate. Die Preussenfahne und die deutsche Fahne wehten ueber den Daechern Keppels. Die Schuelerinnen warfen durchfahrenden Soldaten Blumenstraeusschen zu. Mit Genehmigung der Frau Oberin (der Schulleiterin) schmueckten sie ihre Zimmer mit schwarz-weiss-roten Faehnchen und patriotischen Postkarten; einige trugen auch Haarschleifen in den kaiserlichen Farben. Ansonsten war jedoch preussische Sparsamkeit angesagt: Bunte Schuerzen ersetzten die weissen, die nur noch sonntags getragen werden durften. Frau Oberin verlas den Heeresbericht mit Siegesmeldungen; die Glocken der Stiftskirche laeuteten, zunaechst noch alle drei, dann wurden zwei von ihnen abgegeben und fuer die Waffenproduktion eingeschmolzen. Der Stiftspfarrer hielt eine traurige, aber doch zugleich vaterlaendische Ansprache.
Bald gab es die ersten Meldungen ueber verwundete und gefallene Vaeter und Brueder. Frau Oberin und die Lehrerinnen versuchten zu troesten, so gut es ging. Im Stift trauerte man mit einer ehemaligen Lehrerin, die nach dreimonatiger Ehe ihren Mann, einen Major, in den ersten Augusttagen 1914 verloren hatte und ihren 1915 geborenen Sohn allein grossziehen musste.
Die schulische Situation war kaum beeintraechtigt. Von den drei maennlichen Lehrkraeften wurde keiner eingezogen. Schlimmer war es am Hilchenbacher Lehrerseminar: Etliche der dortigen Lehrer und Seminaristen starben den 'Heldentod' , wie man damals sagte. Die Zeiten wurden haerter, auch versorgungsmaessig. Schuelerinnen, die von zuhause Esswaren zugeschickt bekamen, mussten diese abgeben, damit sie gleichmaessig verteilt werden konnten. Der Hunger war gross. Aber: "Man wahrte Disziplin im Stift und wollte durchhalten allen Gewalten zum Trotz, auch bei trockenem Brot und Steckrueben." (7)
"Die "Hilchenbacher Zeitung" berichtete von "Kriegsabenden", "Wohltaetigkeitskonzerten" und Veranstaltungen des Hilchenbacher wohltaetigen "Jungfrauenvereins". An den letzteren nahm das Stift nicht teil; es entfaltete seine eigene Wohltaetigkeit: Jede Klasse hatte ihren "Feldgrauen", einen Soldaten, den sie betreute. Begeistert schrieb eine Kepplerin im Jahrbuch 1916/17: "Es war etwas Groesseres, was uns trieb. Wir Maedchen sind nun einmal begeistert fuer das Grosse und Starke. Wir lieben und verehren den Helden." (8)
Die Schuelerinnen schickten ihrem Feldgrauen Briefe, strickten Struempfe aus grauer Wolle und sandten ihm Paeckchen mit Liebesgaben. Ein dankbarer Brief kam als Antwort – und das war jedesmal ein Fest.
Die traditionelle Verlosung von kleinen Geschenken zum 1.Advent – in Keppel eigentlich der Hoehepunkt des Jahres – fiel fort. Stattdessen fuhr zu Weihnachten 1916 die ganze Schule mit dem Zug nach Siegen und kaufte unter Aufsicht der Lehrerinnen kleine, huebsche Geschenke fuer die Soldaten ein, vor allem Tabak und Suessigkeiten: "Jedes Teil wurde sorgsam in weisses Seidenpapier gehuellt, mit schwarz-weiss-rotem Band verschnuert und mit einem Tannenzweig geziert." (9)
Die Stimmung war dabei durchaus ausgelassen. In Gedanken begleiteten die Maedchen "ihr Paketchen in den Schuetzengraben". (10) Ob sie sich vorstellen konnten, wie es dort zuging? Die naive Begeisterung ist erschreckend, aber vielleicht auch verstaendlich: Zu viele Aufrufe an den Opferwillen der Jugend waren ergangen, Aufrufe zum Zeichnen von Kriegsanleihen, zum Kriegswahrzeichennageln zugunsten der Jugendspende fuer Kriegerwaisen. Auf "geschmackvollen Tafeln" wurden gegen eine Geldspende Naegel eingeschlagen: Es ergab sich ein patriotisches Bild, etwa den 'Kyffhaeuser': Nach dem Sieg sollten die Tafeln im Treppenhaus aufgehaengt werden, aber dazu kam es nicht ...
Nach den ersten Kriegsmonaten ebbte die Begeisterung merklich ab, und auch die pathetischen Aufrufe hatten nach einiger Zeit viel von ihrer Wirkung verloren. Die angesetzten Sammelaktionen wurden als willkommene Abwechslung vom Schulalltag gesehen. Ob die Schuelerinnen sich da noch voll auf ihren Unterrichtsstoff konzentrieren konnten? Mit knurrendem Magen begaben sie sich klassenweise nach Luetzel, um dort Blaubeeren oder Pilze zu suchen – zur Bereicherung des kaerglichen Abendbrots im Stift, aber auch fuer die die Siegener Lazarette. Ausfluege fielen fast ganz fort. Stattdessen halfen die Maedchen in der Keppelschen Landwirtschaft und sammelten fleissig Eicheln und Laub in den Waeldern . Die Saecke wurden in der Keppeler Turnhalle deponiert und zusammen mit Liebesgaben aus der Bevoelkerung von den Stiftsdamenlehrerinnen an den 'Vaterlaendischen Frauenverein Allenbach' vom Roten Kreuz weiterleitet.
Keppel weiterhin eine Idylle? Fuer die jungen Maedchen blieb trotz der Erschuetterung und des Leides, das vielen Familien widerfuhr und trotz der unzureichenden Ernaehrung doch ihre kleine, abgeschirmte Welt bestehen. Zur Freude aller gab es beim Friedensabschluss mit Russland einen schulfreien Tag. Im weitlaeufigen Treppenhaus stimmte man vaterlaendische Dankeslieder an.
Die Ehemaligen jedoch mussten sich in der harten Wirklichkeit behaupten: Sie schickten Berichte an ihre alte Schule fuer das Keppeler Jahrbuch, das selbstverstaendlich im Kriege mit einem schwarz-weiss-roten Rand versehen worden war. Sie schrieben zum Beispiel ueber ihren Einsatz als 'Sommerlehrerin' in der Lueneburger Heide und Pommern, wo Hunderte von ausgehungerten und unterernaehrten Kindern aus dem Ruhrgebiet ueber mehrere Wochen zusammen mit den einheimischen Dorfkindern in ueberfuellten Schulstuben unterrichtet wurden. Manche Ehemalige mussten sogar harte – und unweibliche - Kriegsarbeit verrichten, etwa als Munitionsarbeiterin oder Fabrikpflegerin. Auf brutale Weise wurde hier der vor dem Kriege haeufig abgelehnte Ruf nach weiblicher Berufstaetigkeit fuer die 'hoeheren Toechter' verwirklicht.
In den Kriegsjahren wurde weiterhin inbruenstig am 27. Januar der Geburtstag "unseres geliebten Kaisers" gefeiert In der Stiftskirche lauschte man dem vom Chor vorgetragenen Gebet, das die Hohenzollern verherrlichte:
Vater im Himmel Du,
Schenke uns Friedensruh,
Wenn's Dir gefaellt
Doch wenn's noch nicht kann sein
Fest bleibt auch Mann fuer Mann
Deutschland im Feld -
Gegen die Welt
Schuetz' unser Zollernhaus
Im wilden Kriegsgebraus
Mit starker Hand.
Schirm unsern Kaiser gut
Schuetze sein Erb und Blut
Und unser Land im Weltenbrand.
Zum Licht der Sonne klar
Schwingt sich der Zollernaar,
Siegesgewoehnt.
Huetet den heil'gen Hort,
Bis einst das sel'ge Wort
"Friede" ertoent,
Lorbeergekroent!"
(11)
Der Schock des Zusammenbruchs traf Keppel tief. Noch im Jahrbuch 1917/18 hiess es" Wir sind ja dankbar dafuer, auch ein klein wenig Kriegsarbeit leisten zu duerfen. Waere die deutsche Jugend der Ruhmestaten, die unsere wackeren Krieger jetzt wieder auf Frankreichs Boden aufs neue vollbringen wert, wenn sie nicht gerne die Haende fuer die grosse Sache des Vaterlands regte?" (12) Das Jahrbuch 1918/19 aber vermeldete:" Ein unendlich truebes Jahr liegt hinter uns […] Vaterlaendische Trauer ueberschattet alles." (13)
Bei Kriegsende zogen zurueckflutende Truppen durchs noerdliche Siegerland und nahmen u.a. im Stift Quartier. Turnhalle und Schulkassen wurden geraeumt und zum Massenquartier hergerichtet. Und doch, bei aller Verzweiflung: Beim Nahen der Soldaten wurden Girlanden und Kraenze gewunden. Am Bahnhof wurde eine Ehrenpforte errichtet. Die Stiftsschuelerinnen trugen den Soldaten Volkslieder vor, und diese stimmten mit ein. Eine junge Ex-Kepplerin berichtete: "Es war – so paradox es klingen mag – fuer uns junge eine herrliche Zeit. Wir waren nach vier harten Kriegsjahren so ausgehungert nach Freude und Erleben, und die Tragik des Geschehens wurde uns nicht bewusst […] Wir tanzten mit den jungen Offizieren." (14)
Der Stiftsalltag nach Kriegsende brachte jedoch wahrhaft niederdrueckende Erfahrungen: Verursacht durch die schlechte Versorgungslage starben innerhalb weniger Tage drei Schuelerinnen an der spanischen Grippe. Ein junge Keppeler Lehrerin wurde im Walde ermordet. Es waren harte, unsichere Zeiten.
Zum 50jaehrigen Anstaltsjubilaeum fand eine "behoerdlicherseits genehmigte kleine Feier" (15) statt. In patriotischen Ansprachen wurde schmerzlich des untergegangenen Hohenzollernreiches gedacht: Keppel konnte sich im Jahre 1921 noch nicht mit der neu gegruendeten Weimarer Republik abfinden. (16)
ueber die Keppeler Schule zur Kaiserzeit schreibt eine Ehemalige: " Wir wurden ganz in den Vorstellungen preussischer Offiziers-und Beamtentoechter erzogen. Die Monarchie schien die beste Staatsform zu sein, Heeresdienst die beste koerperliche Ertuechtigung, die Schule der Nation, Krieg: Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln und unvermeidlich, sogar noetig, um aufzuruetteln aus Bequemlichkeit und Eigennutz." (17)
Die Fragwuerdigkeit solcher Ideale sei ihr erst sehr viel spaeter - (1945!) - bewusst geworden. Sie betont aber auch, was sie der Schule alles zu verdanken habe: "Ordnung, Puenktlichkeit, Fleiss, Gruendlichkeit. Kameradschaftlichkeit, solide Kenntnisse, Idealismus, rege Interessen. Das ist viel." (18)
Dorothea Jehmlich
Anmerkungen
1 Die Darstellung der Keppelschen Ereignisse basiert auf der "Stiftschronik", verfasst von Meta v. KLINKOWSTRoeM, die jedem Jahrbuch als Einleitung vorangestellt ist. In: Marie-Antoinette Gaillard (Hrsg.), Keppeler Jahrbuecher (1912-1913 bis 1920-1921) Halberstadt 1912-1921.
2 Jahresbericht der Stift Keppel'schen Erziehungs-und Schulanstalt fuer das Schuljahr 1911-1912, 1912-13, 1913-14., 1914-15, hrsg. von der Stiftsoberin Anna Ciriaci-Wantrup, Stift Keppel, Hilchenbach 1911-1915. Ab 1915 fehlen die Berichte, die erst wieder 1925 von der Regierung angeordnet werden.
3 Ciriaci-Wantrup, Jahresbericht 1911-1912, (2) S.11.
4 Ciriaci-Wantrup, Jahresbericht 1912-1913, (2), S.11.
5 Ciriaci-Wantrup, Jahresbericht 1913-1914, (2), S.11.
6 Hildegard KAZ-GIESLER, Allerhand Erinnerungen rund um das Stift, in: Heinz Flender, Wilhelm Hartnack, Juliane Freiin v.Bredow (Hrsg.), Stift Keppel im Siegerlande 1239-1971, 3 Bde., Stift Keppel 1971, Bd. II, S.229-234, S.232.
7 KAZ-GIESLER, Stift Keppel (6) Bd. II, S.233.
8 Kaete SCHRoeDER, Unsere feldgrauen Klassenfreunde, in: Keppeler Jahrbuch (1) 1916-1917, S.47-56, S.47.
9 SCHRoeDER, Keppeler Jahrbuch (1), 1916-1917,S.47-56, S.53.
10 SCHRoeDER, Keppeler Jahrbuch (1) 1916-1917,S.47-56, S.54.
11 KLINCKOWSTRoeM, Stiftschronik, Keppeler Jahrbuch (1), 1915-16, S.3-6, S.5.
12 KLINCKOWSTRoeM, Stiftschronik, Keppeler Jahrbuch (1), 1917-1918, S.3-7, S.7.
13 KLINCKOWSRoeM, Stiftschronik, Keppeler Jahrbuch (1), 1918-1919,S.3-9, S.3.
14 KAZ-GIESLER (6 ), Bd.II, S.233-234.
15 KLINCKOWSTRoeM, Stiftschronik, Keppeler Jahrbuch (1), 1920-1921, S.3-6, S.5.
16 Hinweise bei Elli WUNDERLICH, Keppel in politisch bewegten Zeiten, in: 750 Jahre Stift Keppel 1239 bis 1289, hrsg. von Erwin Isenberg, Udo Reich, Horst Wunderlich, Stift Keppel 1989, S.163-176, S.163-164.
17 Anonym, Erinnerungen einer Internen (1903-1910), Stift Keppel (6), Bd.II, S.217-228, S.227.
18 Ebenda.
Bildnachweis
Bild 2 und 3: Hilchenbacher Zeitung, Stadtarchiv Hilchenbach. Alle anderen Bilder: Stiftsarchiv Keppel.